
Sterbehelfer Florian Willet half einer Frau, sich mit der Suizidkapsel das Leben zu nehmen, geriet ins Visier der Schaffhauser Strafjustiz – und wählte dann selber den Freitod. Jetzt werfen Dokumente neue Fragen zu seiner Untersuchungshaft auf.
Es ist ein trüber Herbstnachmittag, jener 23. September 2024 in Merishausen, der schliesslich zwei Menschen das Leben kosten wird. Ein Leben wird geplant zu Ende gehen, das einer 64-jährigen schwer kranken Amerikanerin, die an jenem Tag in einem Waldstück im inzwischen berühmt gewordenen Sarco bewusst einen Knopf drückt, um die Suizidkapsel mit Stickstoff zu fluten und an fehlendem Sauerstoff zu sterben.
Daneben steht der Sterbehelfer Florian Willet in gelber Windjacke und protokolliert mit Handy, Kameras und iPad den Tod der Frau. Auch er wird sterben, als Opfer einer Eskalation, die niemand vorausgesehen hat. Willet wird damals noch vor Ort verhaftet, verbringt 70 Tage in Untersuchungshaft, kommt frei, ohne wieder Halt zu finden, und scheidet, wie deutsche Behörden vergangene Woche bekanntgaben, am 5. Mai in Köln freiwillig aus dem Leben.
Der 47-Jährige war Präsident der Sterbehilfeorganisation The Last Resort, die mit dem erstmaligen Einsatz der futuristischen Kapsel im Schaffhauser Wald dem selbstbestimmten Sterben ohne ärztliche Begleitung den Weg bahnen wollte. Die Organisation zögert nicht mit der Schuldzuweisung: Willet sei ein Justizopfer, sagt Philipp Nitschke, der Erfinder des Sarco, und zitiert aus einem psychiatrischen Gutachten, das bei Willet eine «akute polymorphe psychotische Störung» als Folge der Belastung durch die U-Haft diagnostizierte.
Auch wenn es für solche Schuldzuweisungen zu früh und ein Suizid selten monokausal zu erklären ist, sagen alle, die Willet kannten, dass aus einem hochintelligenten, zurückhaltenden und sachlichen Menschen nach seiner Freilassung im Dezember ein Getriebener geworden sei, paranoid, stets in der Angst, abgehört und wieder ins Gefängnis gebracht zu werden.
Wie konnte es so weit kommen? Schliesslich hatten Willet und die Anwälte seiner Organisation selber die Polizei gerufen an jenem trüben 23. September. Sie hatten ausführlich dokumentiert, was geschehen war und auch, dass der Suizid im Sarco dem Wunsch der schwer kranken Frau entsprach. Während die Anwälte und eine anwesende Fotografin der niederländischen Zeitung «Volkskrant» nach 48 Stunden freikamen, blieb Willet in Haft – 10 Wochen lang.
Dokumente deuten nun darauf hin, dass sich die Staatsanwaltschaft dabei auf eine Analyse der Todesursache stützte, die sich im Nachhinein als falsch erwies. Erst jetzt wird bekannt, was in der Endfassung des Obduktionsberichts der Amerikanerin steht.
Eine entscheidende Rolle bei der Anordnung der U-Haft spielte eine Aktennotiz vom 24. September der zuständigen Staatsanwältin. Darin fasst sie zusammen, was ihr das Institut für Rechtsmedizin in Zürich am Telefon über die Untersuchungsergebnisse des Todes vom Vortag gesagt habe. Da wird detailliert aufgeführt, was alles für eine «komprimierende stumpfe Gewalt am Hals (Strangulation)» spreche. Die Rede ist von «Punktblutungen in den Augenbindehäuten», Zeichen stumpfer Gewalt wie Quetschungen auf Kehlkopfhöhe oder einem linken gebrochenen Zungenbein. Es handle sich «keinesfalls um ein ruhiges, friedliches Ableben, bei dem die Verstorbene einfach eingeschlafen sei».
Diese Aktennotiz war die Basis für das folgende Haftbegehren der Schaffhauser Staatsanwaltschaft, die zum Erstaunen der Anwälte neben der Beihilfe zum Selbstmord eine vorsätzliche Tötung ins Spiel brachte. Der schockierende Verdacht: Der Sarco habe bei seinem ersten Einsatz nicht richtig funktioniert, und Willet habe nachgeholfen.
Dazu muss man wissen: Die Staatsanwaltschaft hatte im Vorfeld Willet und seine Mitstreiter gewarnt, dass sie eine Strafuntersuchung eröffnen werde, wenn sie den Sarco in Schaffhausen aufstellten. Doch Sterbehilfe ist in der Schweiz nur dann strafbar, wenn sie aus selbstsüchtigen Motiven geschieht. Willet und die Anwälte gingen deshalb selbst im schlimmsten Fall von einer nur kurzen Festnahme aus. Nur der dringende Tatverdacht der vorsätzlichen Tötung in Kombination mit Fluchtgefahr erlaubte es der Staatsanwaltschaft, den Deutschen, der erst ein paar Jahre in der Schweiz lebte, 10 ganze Wochen in Untersuchungshaft zu nehmen.
Eigenartig blieb allerdings, dass auch in den folgenden Wochen und Monaten neben dieser Aktennotiz kein eigentliches Obduktionsgutachten vorlag. In einer Verhandlung über seine Haftentlassung Anfang November erfuhr Willet nur, dass seine DNA nicht am Körper der Toten gefunden wurde, dennoch musste er in U-Haft bleiben.
Offiziell liegt das Gutachten erst seit dem 27. März dieses Jahres vor, also ganze sechs Monate nach dem Tod im Sarco, wie die Staatsanwaltschaft kürzlich der NZZ bestätigte. Doch was angeblich im neunseitigen Bericht steht, sahen andere Parteien erst diese Woche, wie aus Anwaltskreisen zu vernehmen ist. Der Verdacht einer gewaltsamen Fremdeinwirkung wird durch die Obduktion nicht bestätigt, auch wenn sie nicht zu 100 Prozent ausgeschlossen werden könne. Vielmehr liessen sich die ursprünglich als verdächtig taxierten Spuren am Hals mit natürlichen Ursachen erklären.
Die neue Entwicklung wirft kein gutes Licht auf die Ermittlungen. Wie ist eine solche Diskrepanz zwischen der Telefonnotiz gleich nach der Obduktion und dem Autopsiebericht möglich? Warum dauerte es so lange, bis das Gutachten da war? Warum erhielten die Beschuldigten und ihre Anwälte so lange keine Einsicht? Und: Wurde die lange U-Haft, die Willet am Ende so zusetzte, aufgrund falscher Einschätzungen angeordnet?
Die Staatsanwaltschaft Schaffhausen nimmt «wegen des Amts- und Untersuchungsgeheimnisses» zu diesen Fragen keine Stellung. Der Erste Staatsanwalt, Peter Sticher, verweist lediglich darauf, dass Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts, das über U-Haft befindet, sowie des Obergerichts das Vorgehen der Staatsanwaltschaft schützten. Letzteres musste eine Beschwerde zur abgelehnten Haftentlassung beurteilen, allerdings zu einem Zeitpunkt, als Willet bereits wieder auf freiem Fuss war, so dass es vor allem noch um die Verfahrenskosten ging. Dabei stellte sich das Obergericht auf die Seite der Ermittler.
Das Problem: Bei all diesen Entscheiden spielte in erster Linie die frühe telefonische Aktennotiz zur Obduktion eine wesentliche Rolle und kein fertiges Gutachten, dessen Ergebnisse der Aktennotiz offenbar widersprechen und offiziell erst später vorlagen.
Willet und die involvierten Anwälte wunderten sich denn auch über den Verbleib des Obduktionsgutachtens, das normalerweise nach ein paar Tagen erstellt ist. Sie verlangten weitergehende Akteneinsicht – was ihnen die Schaffhauser Behörden verwehrten, und fragten sich verärgert, wie lange die einzelnen Verfahrensschritte dauerten und ob die Staatsanwälte die Aufnahmen der Kameras und die Sauerstoffmessungen in der Kapsel ignorierten, die das Geschehen im Wald dokumentiert hatten.
In all der Zeit sass Florian Willet in Schaffhausen im alten, düsteren kantonalen Gefängnis, ohne nach Beginn der U-Haft zur Sache auch nur einmal einvernommen zu werden, ohne Kontakt zur Aussenwelt, ausser über seine beiden Anwälte. Und während er die Anfangszeit laut deren Aussagen gut überstanden hatte, verschlechterte sich sein psychischer Zustand gegen Ende. Noch am Samstag vor seiner Entlassung musste sein Schaffhauser Anwalt Urs Späti notfallmässig vorbeikommen, um ihn zu beruhigen. «Er verlor den Boden unter den Füssen, glaubte etwa, seine Sachen würden durchsucht», sagt Spaeti.
«Untersuchungshaft ist immer schlimm. Man ist da ja per definitionem noch unschuldig, doch man erlebt mit der Isolation von einem Tag auf den andern das härteste aller Gefängnisregime. So lange in U-Haft zu sitzen, war traumatisierend», sagt Andrea Taormina, Zürcher Rechtsanwalt, der in diesem Fall die niederländische Fotografin vertritt.
Aus der U-Haft entlassen wurde Willet schliesslich am 2. Dezember – offenbar weil die Staatsanwaltschaft nach zweieinhalb Monaten die im Sarco gemessenen Sauerstoffwerten schliesslich doch für richtig befunden hatte, die zeigen, dass die Kapsel während der Sterbehilfe nicht geöffnet wurde. Doch da hatte das Unheil schon seinen Lauf genommen. Florian Willet rutschte gemäss Aussagen von Weggefährten und psychiatrischen Diagnosen wegen eines psychotischen Schubs immer tiefer ab – eine Diagnose, die eine plötzlich auftretende psychische Krise mit starken Stimmungsschwankungen und Wahnvorstellungen beschreibt. Im Februar stürzte er aus dem dritten Stock seines Wohngebäudes, für einige ein erster Suizidversuch, den er verneinte; er verletzte sich schwer, wurde operiert und musste in die Rehabilitation. Dann tauchte er ab, ohne seine Nächsten zu informieren. Er fuhr nach Deutschland, um zu sterben.